Dienstag, 13. September 2016

Unsere Flucht von Ost nach Westberlin
 
Als ich in Ost-Berlin zur Grundschule ging, war mein Leben zweigeteilt. In der Schule trug ich ein blaues Halstuch und führte eine Strichliste, welche anderen Schüler es auch umbanden. Diese Aufgabe erfüllte ich mit Widerwillen, denn sobald ich zuhause ankam, flog das Stück Stoff in die hinterste Ecke. Unsere Familie war westlich orientiert, wir sahen im Fernsehen regelmäßig das Westprogramm. Mein Vater wohnte zu dieser Zeit nicht mehr im Fichtelgebirge, sondern er zog zur Schwester meiner Stiefmutter in den Wedding nach West-Berlin.
Privat standen wir also dem Westen näher als dem Ost-Regime, dass sich meiner Meinung nach viel zu sehr in unser Leben einmischte. Unfreiheit und Bespitzelungen, die schon während der Schulzeit stattfanden, bedrückten mich stark. Es kam zum Beispiel häufig vor, dass unsere Schulmappen von der Klassenlehrerin nach Westcomics und Westgeld durchsucht wurden. Meist fand sie bei einigen Schülern etwas und die Sachen wurden ihnen weggenommen. Ob sie dann die Eltern unterrichtete entzieht sich meiner Kenntnis.
Dann starb mein Vater am 9. August 1961 im Pflegeheim an Magenkrebs, und meine Stiefmutter beschloss mit mir zu ihrer Schwester in den Wedding zu flüchten, weil sie in Ostberlin keine Rente zu erwarten hatte.
Ich kam an diesem Tag von einem Ferienaufenthalt auf Rügen an der Ostsee wieder, konnte aber erst am nächsten Tag zu meinem Vater, als er bereits tot war. Sein Tod betrübte mich sehr, hatte ich ihn doch über alles geliebt.
In den nächsten zwei Tagen ging alles sehr schnell. Wir zogen uns mitten im heißen Sommer drei bis vier Sachen übereinander an und fuhren von der Schönhauser Allee zwei Stationen weiter bis zum S-Bahnhof Wedding.
Das letzte Mal half mir Linda,meine Schwester, noch dabei. Wir rannten den Zug entlang mit ihrem halb- jährigen Sohn im Kinderwagen bis zum Abteil für Mutter und Kind. Er musste in seinem Wagen sitzen, weil hinter ihm ein dickes Kopfkissen steckte. Danach sah ich sie für lange Zeit nicht mehr. Meinen Koffer aus Gören auf Rügen holte auch niemand  ab, denn  vom 13.08.1961an trennte die Mauer Berlin in zwei Teile.
Für mich war das doppelt schrecklich, verlor ich doch meinen Vater gleichzeitig mit Linda und ihrer Familie, die nicht mehr rechtzeitig nach West-Berlin flüchten konnte.
Eine tiefe, schwarze Traurigkeit erdrückte mich für Monate, aber weinen durfte ich nicht, denn meine Stiefmutter schimpfte auf meinen Vater, den sie kurz vor seinem Tod zum zweiten Mal nur heiratete, damit ich als eheliches Kind erklärt werden konnte. Er vererbte ihr sein altes Mobiljahr dafür. Die 10 000 DM Sparvermögen bekamen Linda und ich je zur Hälfte. Vorher bat er sie inständig: „ Beeile dich mit den Formalitäten, sonst schaffe ich es nicht mehr."
Mein Start in den Westen vollzog sich also sehr schwierig. Ich hatte zwar die Unfreiheit hinter mir gelassen, verlor aber gleichzeitig das Liebste was ich besaß: meinen Vater, Linda und die Schwester meines Vaters. Meine Tante arbeitete ihr Leben lang als Krankenschwester in der Charité. Beide sah ich erst nach Jahren wieder. Diese Teilung ging direkt durch mein Herz. Deutlich spürte ich den Schmerz der anderen getrennten Familien, die sich rechts und links der Mauer nur von weitem zuwinken konnten. Es war eine grausame Zerrissenheit.
Inzwischen besuchte ich das Bertha von Suttner Gymnasium, denn wir blieben nur kurze Zeit im Zimmer meines Vaters, der damals bei der Schwester meiner Stiefmutter wohnte und zogen bald darauf in eine eigene Wohnung nach Reinickendorf. Ich hörte von einem Schüler der 11. oder 12. Klasse, der sein Leben verlor, als er seiner Mutter zur Flucht über den Stacheldrahtzaun verhelfen wollte. In den nächsten Monaten schrieben die Zeitungen ständig über ähnlich tragische Fluchtversuche. Mal glückten sie, dann war die Freude darüber groß, aber sehr oft endete eine Flucht tödlich, wenn sich z.B. Menschen aus den Fenstern der Bernauerstraße abseilten und kein rettendes Sprungtuch auf der Straße im Westteil sie auffing.
In der Schule in Ost-Berlin hatte ich als letztes das Lied der Moorsoldaten eines ehemaligen KZ´s gelernt. Ich dichtete es um:" Wir sind die KZ-Soldaten und ziehen mit den Spaten zur Mauer hin." Mir erschien die ganze DDR wie ein riesig großes KZ. Die Einwohner waren die Häftlinge, aber auch West-Berlin wurde eingemauert.Man verhinderte so, dass sich Ost- und Westbürger besuchen konnten.
Es sollte fast dreißig Jahre dauern bis diese unmenschliche Teilung ein Ende fand. Oft  hatte ich fast jede Hoffnung auf eine Wiedervereinigung aufgegeben. So aussichtslos schien die politische Situation zu sein. J.F. Kennedy kam nach Berlin, sah die Mauer und rief die historischen Worte: „ Ich bin ein Berliner!“
Ändern konnte er trotzdem nichts, obwohl wir alle sehr auf Unterstützung aus Amerika hofften, doch weder die Sowjetunion noch die Westmächte wollten einen dritten Weltkrieg riskieren.
Einige Jahre später sollte sich die politische Lage noch gewaltig zuspitzen. Ich flüchtete mit meinen zwei kleinen Kindern nach Afrika, denn auf beiden Seiten der Mauer wurden Atomsprengköpfe aufgestellt. Beide Supermächte „rasselten“ mit ihren Atomwaffen. Es grenzt an ein großes Wunder, dass der dritte Weltkrieg ausblieb. Jedoch kaum im Sudan angekommen, fielen dort Bomben auf unschuldige Menschen! Man wollte die Fernsehstation treffen, aber sie schlugen in Wohnhäuser ein und trafen Menschen, die am Nil gerade ihre Autos wuschen. Wer die Bomben abwarf, kam nie heraus, aber davon berichte ich später ausführlicher.
Vorerst lebte ich noch in Reinickendorf und ging aufs Gymnasium. Mich wunderte  damals sehr, es war das Jahr 1963, in dem das Attentat auf J.F.K. verübt wurde, dass kein Lehrer darüber auch nur ein einziges Wort verlor, obwohl wir alle sehr betroffen und still schweigend auf unseren Stühlen hockten.
Bevor ich an diesem Tag in die Schule ging, hatte ich von dieser Tragödie in der Berliner Morgenpost gelesen. Auch mich hatte J.F.K.´s weltoffene und charismatische Ausstrahlung in den Bann gezogen und seine stark anziehende Wirkung hinterlassen.
Darum schockierte mich die traurige Nachricht richtig heftig, doch nicht nur mich, sondern viele Berliner und andere Menschen weltweit, vor allem weil das so plötzlich und unverhofft geschah. Bis heute blieb ungeklärt ob Lee Harvey Oswald der alleinige Täter war und wer den Auftrag gegeben hatte.  Einige Zeichen deuten darauf hin, dass mindestens ein Komplize beteiligt war von den Richtungen der abgegebenen Schüsse ausgehend, die J.F.K. trafen. 

Wer zog eigentlich Nutzen daraus?